Solidarische Perspektiven entwickeln – jenseits von Wahlen und Populismus

“Es gibt keinen Wahnsinn, der größer ist, als die heutige Organisation unseres Lebens.” (G.D.)

Vielerorts in Europa verzeichnen rechtspopulistische Parteien wie die AfD(*1) einen enormen Zuwachs an Wähler*innenstimmen. Gleichzeitig gewinnen in Südeuropa „linkspopulistische“ Kräfte an Einfluss: Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien. Der linke Flügel der sozialdemokratischen Parteien in Frankreich, England und Deutschland (samt der Partei die Linke) liebäugelt ebenfalls mit einem linken Populismus. Spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wurde schließlich deutlich, dass es sich beim derzeitigen Aufstieg des Populismus nicht um ein rein europäisches Phänomen handelt.

Es wäre natürlich falsch, Rechts- und Linkspopulismus einander gleichsetzen zu wollen. Denn zwischen der offen nationalistischen und rassistischen Programmatik des Rechtspopulismus und dem Linkspopulismus, der oftmals wichtige Themen wie mangelnde soziale Gerechtigkeit anspricht, bestehen natürlich erhebliche Unterschiede. Dennoch darf über Gemeinsamkeiten im Weltbild von Populist*innen nicht hinweggesehen werden. Wo sich linke und rechte Populist*innen trotz aller Differenzen einig sind, ist ihre Liebe zum „einfachen Volk“, das sie gegen das nationale “Establishment”, die “EU-Eliten” und das “internationale Finanzkapital” zu verteidigen gedenken.

Der Linkspopulismus ist in diesem Sinne nicht einfach eine reformistische Spielart linker Politik, sondern geht in seiner Weltsicht von gefährlichen Vereinfachungen aus. Er ersetzt die Analyse kapitalistischer Herrschaftsstrukturen durch den simplen Konflikt “Volk gegen Elite”. So steht er immer bereits an der Schwelle, ins Nationalistische und Reaktionäre abzugleiten. Wer allein die “korrupte Elite” kritisiert, kommt schnell zu dem Schluss, diese schlicht durch die eigene, vermeintlich aufrichtigere Elite ersetzen zu wollen. So ist es kein Zufall, dass linke wie auch rechte Populist*innen auf starke Führungsfiguren und charismatische Heilsbringer*innen – wie Marine le Pen oder Pablos Iglesia – setzen, während sie ihren Anhänger*innen die „direkte Demokratie“ und die „Herrschaft des Volkes“ versprechen. Ebenso schnell wird aus einer Kritik der Europäischen Union als vermeintlicher Hort des Neoliberalismus eine Verklärung des bürgerlichen Nationalstaats, der linken Populisten plötzlich als Garant von Sozialstaatlichkeit und Solidarität vorschwebt. So treffen sich linke und rechte Populist*innen immer wieder in ihrer Liebe zum Vaterland, das sie – wenn auch aus verschiedenen Motiven – stärken und abschotten wollen.

Immer wieder ist rechten wie linken Populist*innen auch ein verklärter Blick auf die vorgeblich bessere Vergangenheit gemein: Eine gegebene Situation ist nur als unerträgliche zu erkennen und damit auch als eine, welche verändert werden muss, wenn sie als Mangel in Bezug auf ein mögliches Anderes erkannt wird. Doch eingebunden in die gegebenen Umstände ist es oft nicht möglich, etwas Anderes als das Gegenwärtige zu denken. Indem Populist*innen auf „alte“ Traditionen und Werte rekurrieren, verweisen sie auf etwas schon Dagewesenes und versprechen somit eine Scheinflucht aus der gegebenen Situation. Einfache politische Lösungen, wie “Zurück zur nationalen Souveränität“ oder „Grenzen schließen“ versprechen Besserung. Die Populist*innen zeigen also ein konkretes Ziel auf und nehmen dadurch die Unsicherheit, die sonst häufig in linken Forderungen mitschwingt.

Denn wer kann wissen, wohin es führte, wenn etwa die Aufhebung aller Grenzen oder die Abschaffung der Lohnarbeit praktisch umgesetzt würde. Der Weg in etwas noch nie Dagewesenes kann scheitern. Hinzu kommt, dass die revolutionäre Linke sich oft nur in der Rolle der Kritikerin wiederfindet und dabei keine konkreten Schritte zur Umsetzung ihrer Utopien anbieten kann. Es gilt daher auf der einen Seite den Populismus zurückzuweisen und auf der anderen eigene solidarische Alternativen zu entwickeln.

Von der wirtschaftlichen Krise zur politischen Krise

Der globale Kapitalismus hat derzeit ein großes Problem: Er ist zu produktiv. Mit dem Einsatz von immer weniger menschlicher Arbeitskraft können immer mehr Güter hergestellt werden. Was zunächst nach Fortschritt klingt, wird in kapitalistischen Gesellschaften zum Problem: Durch die fortschreitende Rationalisierung der Produktion werden immer mehr Menschen arbeitslos und können somit auch die hergestellten Produkte nicht mehr kaufen. Dies führt zu wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, wie zuletzt der Finanz- und Euro-Krise seit 2008. Deutschland hat diese Krise vergleichsweise glimpflich überstanden – maßgeblich durch einen vorrauseilenden Abbau des Sozialstaats (Agenda 2010) und den Lohnverzicht der deutschen Lohnarbeiter*innen. Die herrschende Klasse in Deutschland konnte daraufhin aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht den anderen europäischen Staaten eine bis dato beispiellose Austeritätspolitik aufzwingen. Diese Politik hatte und hat noch immer eine massive Verarmung der südeuropäischen Länder (v.a. Griechenlands) zur Folge. Die linken Populist*innen konnten sich deshalb mit ihrer Opposition zu der von Deutschland dominierten EU und ihren sozialen Versprechungen in diesen Ländern als Retter in der Not darstellen.

Da im Kapitalismus aber nur für diejenigen produziert wird, die die Waren auch kaufen können und beim derzeitigen Entwicklungstand der Produktivkräfte der Bedarf an billigen Arbeitskräften weitgehend gedeckt ist, sind ganze Weltregionen für das Kapital von geringem Interesse. In weiten Teilen des Nahen Ostens und West- & Ostafrikas bringt weder der Aufbau neuer Absatzmärkte noch die Investition in Produktionsmittel neue Gewinne. Die Folge sind Massenelend und andauernde Verteilungskriege um die wenigen Ressourcen. Nicht wenige Menschen sehen ihre einzige Zukunftsperspektive in der Flucht nach Europa. Dort treten dann die rechten Populist*innen mit ihrem Versprechen auf, den nationalen Reichtum und eine diffuse Vorstellung nationaler Kultur vor Migrant*innen schützen zu wollen. Das verschafft ihnen Erfolg; freilich ohne die Verhältnisse verändern zu wollen die Menschen zur Flucht treiben. Der von Rechts propagierte, ökonomische Protektionismus wird zudem kaum etwas gegen wirtschaftlichen Verfall und zunehmende Arbeitslosigkeit ausrichten können.

Populismus von Rechts

Technischer Fortschritt, über 30 Jahre neoliberale Wirtschaftspolitik bei gleichzeitigem Sozialabbau, eine globalisierte Wirtschaft, eine in arm und reich gespaltene Gesellschaft – es wird kein Zurück mehr geben zu den prosperierenden 1950-70ern, auch wenn AfD & Co das in ihren nationalkonservativen Programmen suggerieren. Sie treffen damit den Nerv eines von Abstiegs- und Existenzängsten geplagten Kleinbürgertums, das sich in eine (scheinbar) weniger komplexe Epoche zurücksehnt, in der es noch eine tatsächliche Chance auf das bürgerliche Glücksversprechen gab und in der Klassenmobilität nicht nur abwärts funktionierte. Das Eigenheim für die Familie und vielleicht sogar ein eigener Betrieb – solcherlei Zukunftswünsche sind für immer weniger Menschen erreichbar. Weite Teile des Kleinbürgertums und der verbürgerlichten Arbeiter*innenklasse erkennen nicht, dass dieses Scheitern an den Erwartungen eine direkte Folge der kapitalistischen Ökonomie und ihrer unvermeidlichen Krisen ist. Der Glaube, dass es jede*r in dieser Gesellschaft zu etwas Besserem bringen könne, wenn man nur ordentlich Leistung bringe, ist Ideologie: Ein falscher Schein, den aufrechtzuerhalten im Interesse derer liegt, die von den derzeitigen Verhältnissen profitieren. Der Niedergang von kämpferischen Arbeiter*innenbewegungen einerseits, die neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik andererseits haben weiter dazu beigetragen, dass prekarisierte Lebensumstände und das Scheitern an bürgerlichen Erwartungen nicht als Resultate der kapitalistischen Entwicklung wahrgenommen werden. Stattdessen findet eine Projektion der Abstiegsängste auf die Schwächeren und “Anderen” in dieser Gesellschaft statt: Auf Flüchtlinge, aber auch auf Frauen, die keinem konservativem Rollenbild entsprechen wollen und auf Menschen, die ihre Sexualität nicht nach heterosexuellen Normen leben.

Sichtbar werden diese Projektionen natürlich im unverhohlenen Rassismus und der Feindschaft gegen diejenigen, die vor viel Schlimmerem als drohendem Hartz IV fliehen. Sichtbar werden sie auch in einem etwas subtileren Antifeminismus, in dem die gespürte Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen durch den Schutz der “sicheren Insel” Familie kompensiert wird. Das auf Veranstaltungen wie der homo- und transphoben “Demo für Alle” propgierte Feindbild der “Regenbogen-Pädagogik” passt in dieses Bild. Zwar wird auch “das Establishment” als Verursacher einer drohenden Prekarisierung identifiziert, jedoch folgt daraus keine Kritik sozialchauvinistischer Programme wie der Agenda 2010 oder gar der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Lieber schimpft man auf die links-grüne Hegemonie, deren Political-Correctness-Diktat die Meinungsfreiheit einschränke und die den Volkstod durch Migration herbeiführe. In ihrer Agitation gegen den “Globalismus” wirken schließlich auch antisemitische Stereotypen fort. Der Rechtspopulismus forciert einen Kulturkampf, um nicht über den Kapitalismus reden zu müssen. Wir, das Volk, gegen alle, die wir nicht haben wollen und die wir als Volksfeinde ausmachen. Ein klassisches Stück faschistischer Rhetorik: Vaterland statt Klassenkampf.

und von Links

Der linke Populismus à la Syriza oder Podemos glaubt, mit einem letztlich sozialdemokratischen Programm, die kapitalistische Krise bewältigen zu können: Antizyklische Wirtschaftspolitik, staatliche Investitionen, die Verstaatlichung von Bankwesen und Schlüsselindustrien, eine “Reichensteuer”. Doch wer den Kapitalismus nur regieren, nicht aber überwinden will, bleibt gefangen in der Dynamik der kapitalistischen Krisen. Der Staat mag hier und da justieren können, an der Grundlage wird er, insbesondere in Zeiten des globalisierten Kapitals, nichts ändern können, solange die herrschende Klasse weltmarktfähig bleiben will (und das will sie). Der Linkspopulismus will nun, da er eben von den Klassen nicht sprechen will, die Völker vor den Konzernen beschützen. Damit begibt er sich auf gefährliches Terrain: Nämlich eines, in dem die Flanke nach rechts offen ist und ehemals Linke darüber sprechen müssen, wer denn nun zum Volk gehört und wer nicht.

Eine besonders erbärmliche Spielart des linken Populismus kommt, wie nicht anders zu erwarten, von der deutschen Sozialdemokratie: Ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz stellt sich als einfacher Mann aus dem Volk dar, sein Hauptthema ist Gerechtigkeit. Keine Rede davon, dass er als Präsident des EU-Parlaments die Verelendigungspolitik gegenüber Griechenland mitgetragen hat; keine Rede davon, dass es die SPD war, die für die Zumutungen für Geringverdiener*innen in Deutschland maßgeblich verantwortlich ist. Schulz redet von den “einfachen Leuten”, für die er kämpfen will, wie wenn es ihm tatsächlich um Solidarität ginge. Mitnichten. Wer eh keine Chance hat, wird von Schulz kommentarlos abgeschrieben: Die luftigen Reden sind an die gerichtet, deren Renten schon halbwegs sicher sind. In den populistischen Reden geht unter, dass die versprochene Abmilderung der Hartz IV-Gesetze nur für langjährige Lohnabhängige gelten soll, Schulz aber die Hartz IV-Gesetze als Disziplinarmaßnahme für Langzeitarbeitslose selbstverständlich gut heißt. Auch ansonsten hat er an der Fortführung des neoliberalen Wirtschaftsprogramms, mit dessen Umsetzung die SPD auch weiterhin den sozialen Frieden für das Kapital hüten wird, nichts auszusetzen.

Wer auf die Eroberung der Staatsmacht statt auf die Zerschlagung des Staates zielt, wird keinen Ausweg aus der alltäglichen Misere finden. Eine Gesellschaft ohne Eigentum an Produktionsmitteln, ohne Herrschaft von Menschen über Menschen, ohne mörderische Grenzen, ohne den Zwang zur kaputtmachenden und hirntötenden Tretmühle namens Lohnarbeit und ohne der latenten Angst vor dem Verlust der materiellen Existenz wird es nur jenseits von Staatlichkeit und Kapitalismus geben können. Etwas, was der linke Populismus nicht anbieten kann und will.

Jenseits der Wahlen

Der Gang an die Wahlurne im September wird die vielfältigen Probleme, die wir als fragmentierte und gespaltene Klasse der Lohnabhängigen haben, nicht lösen können. Um dies zu begreifen, müssen wir die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie verstehen.

Die Idee der demokratischen Ordnung sieht das Volk – im Sinne der breiten Masse – als Träger der Staatsgewalt. Dennoch werden politische Entscheidungen nicht von der breiten Masse, sondern durch Berufspolitiker*innen getroffen. Das Handeln der Regierung im Parlament muss dabei gleichermaßen als bewusste Anwendung politischer Machtstrategien, wie auch als Reaktion auf bewusstlose, unkontrollierbare ökonomische Prozesse verstanden werden. Denn Politik bleibt insbesondere auf den Feldern der Wirtschafts- & Sozialpolitik angewiesen auf eine funktionierende und profitable nationale Wirtschaft, deren Profite über Steuern abgeschöpft werden müssen, möchte sie sich nicht ihre eigenen Handlungsgrundlage entziehen. Die kapitalistischen Verhältnisse setzen jedem politischen Handeln so einen bestimmten Rahmen. Bald schon treten ökonomische Sachzwänge und vermeintlich alternativlose Kürzungen oder Privatisierungen in Konflikt mit einstigen Wahlversprechen. So simulieren Wahlkampf und Wahlakt eine weitreichende politische Gestaltbarkeit, die in kapitalistischen Verhältnissen in diesem Umfang nicht gegeben ist. Indem Wahlen Vielfalt suggerieren, wo tatsächlich die Einfalt der Einsicht in die kapitalistische Rationalität vorherrschen muss, kommt ihnen eine legitimatorische Funktion zu. Sie organisieren die Zustimmung der Bevölkerung, die mit dem bürgerlichen Parteiensystem lediglich die Auswahl zwischen verschiedenen Verwaltern der kapitalistischen Misere hat. Denn was hierbei nie zur Wahl steht, ist das kapitalistische und staatliche System als Ganzes.

Eine Studie der Nichtregierungsorganisation Oxfam hat es noch einmal deutlich gemacht: Die Konzentration des weltweiten Reichtums ist extrem ungleich. Das reichste Prozent der Weltbevölkerung hatte 2016 mehr Vermögen angehäuft, als die restlichen 99 Prozent zusammen. Die kapitalistischen Gesellschaften sind immer noch Klassengesellschaften, in denen es einen strukturellen Antagonismus (Gegensatz) zwischen denen gibt, welche die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzen und jenen, welche von ihnen getrennt sind, die also nichts weiter als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben.

Dies führt zu unvermeidlichen Reibungen, Auseinandersetzungen und Interessengegensätzen zwischen den Klassen. Die demokratische Form der Herrschaft muss als umfassendes Programm zur Sicherung des sozialen Friedens zwischen den Klassen begriffen werden. Die in und durch das System entstehenden Konflikte werden dabei nicht einfach beigelegt, sondern so ausgetragen, dass dabei keine nennenswerten Störungen im normalen Ablauf des kollektiven Lebens eintreten. Praktisch bedeutet dies: Es macht kaum einen Unterschied ob nun CDU und SPD, CDU und Grüne oder SPD und Grüne eine Koalition bilden. Herrschaft und Ausbeutung werden sich nicht abwählen lassen.

Eine weitere Stütze des “sozialen Friedens”, also dem Fortdauern der Klassengesellschaft, ist die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber*innen-, Arbeitnehmer*innenorganisationen und dem Staat. Wo eigentlich bessere Bedingungen erkämpft werden sollten, setzen die reformistischen Gewerkschaften auf Statuserhalt, die Arbeitgeberverbände und der Staat auf Appeasement-Strategien. So kommt es, dass beispielsweise lächerliche Tariferhöhungen als große Erfolge gefeiert werden, wo sie doch eigentlich Niederlagen in Permanenz sind. Über weitreichendere Ziele, wie über die Frage wer in einem Betrieb eigentlich Entscheidungen treffen sollte – wenige Manager oder die Masse der Arbeiter*innen – wird schon gar nicht mehr gesprochen.

Dabei ist der Arbeitsplatz der Ort, an dem der Mensch einen Großteil seiner Zeit verbringen muss und der oft auch identitätsstiftend wirkt – gleichzeitig gibt man häufig aber genau dort jegliches demokratische Mitbestimmungsrecht draußen am Fabriktor ab. Ab und an darf man als Arbeiter*in zwar einen Betriebsrat wählen, dieser ist – genau wie die bezahlten Berufspolitiker*innen – seinen Wähler*innen jedoch keine Rechenschaft schuldig und via Gesetz auch an den Pakt zwischen den reformistischen Gewerkschaften mit Staat und Arbeitgeber*innenverbände gebunden. Durch die reformistischen Gewerkschaften gebilligte “flexible” und prekäre Arbeitsverhältnisse wie Zeitarbeit oder Scheinselbstständigkeit tragen ihren Teil zur Vereinzelung und Entsolidarisierung der Arbeiter*innen bei. Mit Gesetzgebungen wie dem “Loi Travail” in Frankreich wird die gesetzlich festgeschriebene Auflösung gewerkschaftlich erstrittener Errungenschaften durchgesetzt. Das deutsche “Erfolgsmodell” wird so auch in andere Staaten exportiert. Brav fleißige, deutsche Arbeiter*innen im Schoß der “sozialen” Marktwirtschaft ließen sich von hemdsärmeligen Sozialdemokrat*innen ihre sukzessive Entrechtung als nötige Maßnahme zum Erhalt einer prosperierenden, nationalen Wirtschaft verkaufen – heraus kam die Agenda 2010, an der nun ganz Europa genesen soll. Trotz der harten Kämpfe der Bewegung gegen das “Loi Travail” konnte diese Entwicklung selbst in Frankreich, ein Land das traditionell gewerkschaftlich sehr stark organisiert ist, nicht aufgehalten werden. Staat und Kapital verstehen keinen Spaß, wenn es darum geht, dass Arbeiter*innen ihre Rechte dazu nutzen, um für ihre eigenen Interessen – und gegen die der staatlichen und wirtschaftlichen Macht – zu kämpfen oder gar die Frage stellen, wer eigentlich Entscheidungen zu treffen hat: Sie oder die Chefs, Politiker*innen und Gewerkschaftskader.

Alle vier Jahre bei den Wahlen ein Kreuz zu machen, als die ultimative Ausübung demokratischer Grundrechte darzustellen, erscheint vor diesem Hintergrund wie blanker Hohn. Wir finden, Demokratie sollte dort stattfinden, wo Menschen sich aufhalten und Zeit verbringen: In Betrieben, im Wohnhaus, in Schulen, an der Uni, in der Kita, im Altersheim oder im Krankenhaus. Doch gerade diese Orte und deren Organisation sind zum Teil höchst autoritär. “Mitbestimmen” kann man dort im seltensten Fall. Erlaubt ist dies maximal in der Freizeit, z.B. im Verein oder Ehrenamt. Aber die wirklich “bedeutsamen” Bereiche in unserer Gesellschaft bleiben straff autoritär und hierarchisch organisiert, auch wenn wir das vielleicht gar nicht so empfinden. Und das ist auch ein Teil des Problems. Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir, obwohl wir angeblich in einer freiheitlichen Demokratie leben, doch die meiste Zeit in unseren Alltag enormen Zwängen ausgesetzt sind und nur sehr marginale oder nicht existente Mitbestimmungsmöglichkeiten haben, wäre also ein erster Schritt aus der lähmenden Ohnmacht. Ein zweiter wäre, sich gemeinsam solidarisch zu organisieren und im eigenen Umfeld – dem Wohnblock, dem Arbeitsplatz, dem Viertel – darüber zu sprechen und gemeinsam Vorgehensweisen zu entwickeln, wie man Missständen entgegentreten und alle in die sie betreffenden Entscheidungen miteinbeziehen kann.

Als Abhilfe werden oft “direktdemokratische” Verfahren wie Volksentscheide genannt, um das demokratische Vakuum außerhalb der Wahlkabine weniger leer aussehen zu lassen. Fakt ist, dass sich in diesen Abstimmungen größtenteils wieder nur finanzstarke Parteien beteiligen (können), welche über ausreichend Kapital für große Medienkampagnen verfügen. Statistisch gesehen können jene Entscheide noch weniger Beteiligung als nationale Parlamentswahlen aufweisen. Dabei sind bessergestellte Schichten, sowie auch Männer, unter den Wählenden überproportional vertreten. Zudem werden diese Referenden oftmals zu populistisch aufgeladenen Sachverhalten abgehalten – vom Stadionneubau in Freiburg über das Minarettverbot in der Schweiz bis zum Brexit. Einfache Mehrheiten genügen dabei, um z.T. diskriminierende Regelungen für gesellschaftliche Minderheiten durchzusetzen. Hier heißt Demokratie dann Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit und nicht das Finden eines Kompromisses. Anstatt solche Volksentscheide zu fordern, sollten wir darüber nachdenken wie willkürlich und punktuell unsere Mitbestimmung gefragt ist – und wo sie sonst überall unter den Tisch fallen gelassen oder sogar aktiv bekämpft wird. Unsere Alternative sollte Basisdemokratie und Selbsorganisation in allen Lebensbereichen sein.

Solidarische Perspektiven entwickeln

Unser Ziel als Anarchist*innen ist der freiheitliche Kommunismus, also eine Gesellschaftsordnung, die weder Ausbeutung, noch Unterdrückung von Menschen durch andere Menschen mehr kennt. Diese neue Gesellschaft soll allen ein mehr an Glück bieten, als es die jetzige vermag – ein Versprechen, das die bisherigen sozialistischen Gesellschaftsversuche nicht einhalten konnten. Eine solche Gesellschaft kann demnach nur durch einen radikalen Bruch mit der jetzigen Gesellschaft, sowie den überholten staatssozialistischen Ideen, erreicht werden. Die soziale Revolution darf man sich dabei jedoch nicht als ein Ereignis vorstellen, welches eines fernen Tages passieren wird – solch eine Haltung führt nur zum passiven Abwarten – sondern sie muss intensiv vorbereitet werden. Der Weg zum kommunistischen Ziel, dies zeigen die gescheiterten sozialistischen Versuche, muss dabei die kommende, bessere Gesellschaft vorweg nehmen, d.h. unsere politischen & sozialen Organisationsformen müssen auf allen Ebenen basisdemokratisch strukturiert und durch einen solidarischen Umgang untereinander gekennzeichnet sein.

Die Keimzelle einer solchen Bewegung muss die Selbstorganisierung von Lohnarbeiter*innen in allen Lebensbereichen sein (auch von Lohnarbeiter*innen ohne “Arbeit” z.B. Hartz IV-Empfänger*innen oder Hausfrauen*, solcher in Ausbildung, z.B. Student*innen oder solcher ohne deutsche Pass z.B. Geflüchtete). Als Anarchist*innen dürfen wir uns dabei aber nicht nur als Agitatoren sehen, welche von Außen kommend die Lohnarbeiter*innen aufklären, sondern müssen unsere eigene Existenz als Lohnarbeiter*innen zum Ausgangspunkt unserer Organisierung nehmen. Es geht darum Betriebsgruppen auf unseren Arbeitsplätzen, Stadtteilgruppen in unseren Wohnvierteln, Studierendengruppen in den Universitäten, Frauen*gruppen in unseren Strukturen, Gruppen von Geflüchteten in den Lagern usw. aufzubauen, welche in ihrem jeweiligen Lebensumfeld für Verbesserungen kämpfen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Gemeinsamkeiten dieser Kämpfe aufzuzeigen und eine Kultur der gegenseitigen Hilfe und der gelebten Solidarität zu etablieren.

Ein wichtiger Ausgangspunkt für solch eine politische Praxis können anarchistisch organisierte, soziale (Stadtteil-)Zentren, Wohnprojekte, Bibliotheken, freie Schulen oder Landkommunen sein. Sie sind die materiellen Orte, an welchen sich die vereinzelt Wütenden finden und organisieren können. Dabei müssen wir jedoch weg von der Idee von „Freiräumen“ als Refugium einer Subkultur, hin zu Räumen welche sich den Nachbarschaften öffnen, ohne dabei unsere politischen Ideen aufzugeben.

Solch eine politische Strategie würde es uns ermöglichen eine reale Gegenmacht zum Staat aufzubauen und damit eine reale Alternative, sowohl zu den völkischen Kräften als auch zu den bürgerlichen Parteien anbieten. Diese Alternative würde nicht nur auf Papier oder Bannern zu lesen sein, sondern könnte als solidarische Praxis erlebbar werden.

Es ist also höchste Zeit anzufangen! Bauen wir eine solidarische Pespektive auf – jenseits von Wahlen und Populismus!

 

*1 Um nur einige zu nennen: der „Front National“ in Frankreich, die „FPÖ“ in Österreich, „Fidez“ in Ungarn, die „Dänische Volkspartei“ in Dänemark, die „Schwedendemokraten“ in Schweden, die „PiS“ in Polen, die „SVP“ in der Schweiz, die „MoVimento 5 Stelle“ in Italien, „die Finnen“ in Finnland, die „Nationale Vereinigung“ in Lettland, die „Fortschrittspartei“ in Norwegen, die „PVV“ in den Niederlanden, „UKIP“ in Großbritannien, die „Vereinigten Patrioten“ in Bulgarien, usw.


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